Grundsätzliches zur Weiterbildung

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Bildung ist keine Ware (3)

Gerechtigkeit und Solidarität

Was heißt Gerechtigkeit? Dies fragen sich viele Menschen angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit und der Erosion der sozialen Sicherung. Dies fragen sich viele Menschen auch angesichts der steigenden Gehälter von Vorstandsvorsitzenden großer Kapitalgesellschaften und angesichts der wachsenden Unterschiede zwischen arm und reich. Was heißt Solidarität? Hunderttausende von Demonstranten im Sommer 2004 erzwangen die Kenntnisnahme in der veröffentlichten Meinung von der Tatsache, dass sie Hartz IV nicht als einen Ausdruck von Solidarität und Fürsorge, sondern zum Teil als Unterdrückung ansahen. Viele sind heute der Meinung, dass die Meinungsmacher und die Politiker die Ziele von Gerechtigkeit und Solidarität aus den Augen verloren haben.

In Artikel 20 Abs. 1 des Grundgesetzes steht: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Abs. 3 von Artikel 20 ergänzt: Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. In diesen beiden Absätzen sind das Sozialstaatsprinzip und das Rechtsstaatsprinzip verankert. Als Teil des Rechtsstaatsprinzips werden die Rechtssicherheit und die materielle Gerechtigkeit betrachtet. Als Kern des Sozialstaatsprinzips wird anerkannt, dass der Staat sich um eine solidarische Bewältigung von Lebensrisiken der Menschen kümmern muss.

Gewährsleute für eine Bestimmung dessen was Gerechtigkeit ist, sind der griechische Philosoph Aristoteles aus der Zeit vor Christi Geburt und der amerikanische Gelehrte John Rawls, der im Jahre 2002 verstarb. Aristoteles geht davon aus, dass Gerechtigkeit Gleichheit ist. Er unterscheidet die arithmetische und die geometrische Gleichheit. Ihnen entsprechen die ausgleichende und die austeilende Gerechtigkeit. Typisch für die ausgleichende Gerechtigkeit ist das Recht des Schadensersatzes im Schuldrecht. Schadensersatz ist in der Höhe zu zahlen, die der des Schadens entspricht. Die höherrangige Gerechtigkeit ist nach Aristoteles die austeilende, für die das Prinzip der geometrischen Gleichheit gelten soll. Der Staat soll im Verhältnis zu den Bürgern, die er in verschiedener Weise am allgemeinen Wohlstand und an öffentlichen Ämtern und Ehren beteiligt, jedem „proportional“ das zuteilen, was ihm zukommt. Die Maßstäbe für die Zuteilung können unterschiedlich sein. Am liebsten ist Aristoteles der Maßstab der Arete, d. h. der Tugend oder der Leistung. Man kann den Maßstab unterschiedlich bestimmen. Man kann ihn auch so ansetzen, dass soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten ausgeglichen werden. Dies bedeutet: Der Reiche hat vom Staat weniger als der Arme zu bekommen, der Satte weniger als der Bedürftige.

John Rawls fragt in seinem Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ aus dem Jahre 1971 danach, welchen Gesellschaftsvertrag die Menschen verabschieden würden, wenn sie unter dem Schleier der Unwissenheit über ihre Ausgangslage entscheiden müssten, d. h. darüber, welches Geschlecht, welches Alter, welche Rasse und welches Vermögen sie haben. Nach Rawls würden sich die Menschen in einer solchen Situation für drei Prinzipien entscheiden: Freiheit, d. h. ungehinderten Zugang auf Gerichtsschutz bei einer Verletzung der Grund- und Menschenrechte, Chancengleichheit, d. h. gleichen Zugang zu allen Positionen in Wirtschaft, Verwaltung und Staat, und ein sogenanntes Differenzprinzip. Danach darf es wirtschaftlicheund soziale Ungleichheiten nur geben, wenn sie gleichzeitig auch denen einen Vorteil bringen, die am wenigsten begünstigt sind. Damit sind zwar nicht gewerkschaftliche Forderungen nach einer Angleichung der Vermögens- und Einkommensverhältnisse erfüllt, aber zumindest Forderungen nach einer Verbesserung der Lage der am wenigsten Begünstigten.

Die gegenwärtige soziale Wirklichkeit entspricht weder den Vorstellungen von Aristoteles, noch denen von John Rawls. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu; über fünf Millionen Menschen waren im Februar 2005 ohne Arbeit. Die Schere zwischen arm und reich geht auseinander. 1993 besaßen 10% der reichsten Haushalte fast 45 % des gesamten deutschen Nettovermögens, 2003 besaßen sie knapp 47%. Die ärmsten 10% der Haushalte waren 2003 in Höhe von 0,6% des deutschen Nettovermögens verschuldet, 1993 hatte ihre Verschuldung erst bei 0,2% gelegen. Insbesondere die Kinderarmut, die Armut allein erziehender Frauen und die wachsende Armut von niedrig Verdienenden lassen die gegenwärtige Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik unglaubwürdig erscheinen. Heute wächst jedes fünfte Kind in Armut auf, 1993 war es „nur“ jedes siebte Kind gewesen. Besonders die Alleinerziehenden, mehrheitlich Frauen, haben wegen der unzureichenden Kinderbetreuung geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Die Perspektiven sind düster: Die Schere zwischen Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen geht auseinander. Es wird nicht nur die Summe dessen, was der Sozialstaat an die weniger Begünstigten zu verteilen hat, verringert, sondern auch das gesellschaftliche Risiko, das mit der abhängigen Beschäftigung verbunden ist, zunehmend individualisiert und der privaten Vorsorge übertragen. Neue gesellschaftliche Risiken wie die zunehmende Umweltzerstörung und die Gefährdung der Gesundheit werden zwar erkannt, aber nur unzureichend angegangen.

Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich. Die sozialstaatlichen Sicherungen werden abgebaut. Errungenschaften wie die Mitbestimmung und die Tarifautonomie werden nicht entschlossen genug gegen die Angriffe der Arbeitgeberseite verteidigt. Das haben die Menschen verstanden. Sie misstrauen den Politikern. Diese weichen aus. Nach der Methode „Haltet den Dieb“ werden diese Entwicklungen einer wie immer definierten Globalisierung und ihren Sachzwängen in die Schuhe geschoben. Als Rechtfertigung für eine ungerechte und unsoziale Politik wird auch vorgebracht, dass man unter dem Diktat der internationalen Finanzmärkte stehe. Beide Argumentationslinien sind falsch. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass zunehmend Entscheidungskompetenzen auf supranationale und internationale Organisationen wie die Europäische Union und die WTO verlagert wurden, welche die Dominanz der Finanzmärkte anzielen, muss doch auch heute noch jedes Land in der Lage sein, sich darüber zu verständigen, was mit dem gemeinsam erarbeiteten gesellschaftlichen Reichtum geschehen soll, wie er auf die Mitglieder verteilt wird und welche Korrekturen an den Vermögens- und Einkommensverhältnissen zu wessen Gunsten vorgenommen werden sollen. Auch verfolgt die Europäische Union neben der Sicherung der Kapitalverkehrsfreiheit mit einer Dominanz der Finanzmärkte noch andere politische Ziele. Sie sollte nicht zu einer neoliberalen Privatisierungsunion degenerieren.

Von Aristoteles und John Rawls können die Politiker viel lernen. Gleichheit und Gerechtigkeit sind Geschwister. Nach dem Differenzprinzip darf es den Wohlhabenden besser gehen, so lange die Lebensqualität der Benachteiligten nicht sinkt. Ludwig Erhard nannte dieses Prinzip „soziale Marktwirtschaft“. John Rawls hat die soziale Abstützung der Marktwirtschaft in seiner Theorie der Gerechtigkeit postuliert und dies ausdifferenziert. Für die heutige, veröffentlichte Meinung existieren diese Ziele nicht. Die herrschenden Neoliberalen wollen die möglichst totale Marktwirtschaft verwirklichen, das Soziale soll so weit wie möglich zurückgedrängt werden. Dahinter steckt der Irrglaube, der Markt werde es schon richten. Das gegenwärtig zu beobachtende Marktversagen wird in ein Staatsversagen uminterpretiert. Folglich sollen der Sozialstaat und die soziale Sicherung noch weiter abgebaut werden. Das Scheitern dieser Politik ist manifest. Die Menschen haben Angst. Sie halten in Erwartung weiterer sogenannter Reformen, mit denen der Abbau der sozialen Sicherungen rhetorisch vertuscht wird, das ihnen verbliebene Geld zusammen und reduzieren ihren Konsum. Die Nachfrage geht zurück. Der Staat fällt als Nachfrager weitgehend aus. Die Wirtschaft ist in der Krise. Die Flucht in den Export fängt den Kollaps des Binnenmarkts nicht auf.

Solidarität kann Angst reduzieren. In der französischen Revolution war die Forderung nach Brüderlichkeit oder Solidarität gleichrangig mit denen nach Freiheit und Gleichheit. Solidarität erreicht nicht nur den nächsten, sondern auch den Fremden. Die Forderung der Arbeiterbewegung nach internationaler Solidarität bildete schon vor dem ersten Weltkrieg einen Gegenpol zum Nationalismus. Die solidarische Wirtschaft der Genossenschaften und der gemeinwirtschaftlichen Unternehmen entwickelte Alternativen zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Solidarität und Wirtschaftsdemokratie sind miteinander verwandt. Nach dem Ersten Weltkrieg ermöglichte die Mitbestimmung ein Stück Wirtschaftsdemokratie, eine Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Unternehmensentscheidungen oder zumindest eine Beeinflussung ihrer Folgen. Mitbestimmung wiederum ist nur funktionsfähig auf der Basis einer funktionierenden, solidarischen Gewerkschaftsarbeit. Tarifautonomie, Streikfreiheit und Mitbestimmung haben ihre Basis in der Solidarität der Arbeitnehmer.

Solidarität ist nicht ineffizient. Im Gegenteil: Sie schafft die Basis für das gegenseitige Vertrauen, für das Sicherheitsgefühl, auf dessen Grundlage Kreativität und Innovation gedeihen. Auch Arbeitsbeschaffung ist effizient. Die meisten Arbeitslosen wollen arbeiten. Aus wohlfahrtsökonomischer Sicht ist es effizient, die Erwerbstätigkeit auszuweiten und die Produktivitätsfortschritte zu nutzen. Die Erwerbstätigen erzeugen bei hoher Produktivität eine Wertschöpfung, die sowohl für den eigenen Lebensunterhalt als auch für den Lebensunterhalt der noch nicht und nicht mehr Erwerbstätigen ausreicht Mehr Solidarität in Wirtschaft und Gesellschaft würde nicht nur die Angst von den Menschen nehmen und die Konsumabstinenz beenden. Sie könnte auch wirtschaftlich erfolgreich das sogenannte Generationenproblem angehen.. Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil verbessern wir mit einer Ausweitung der Solidarität in unserer Gesellschaft die Chancen der nachfolgenden Generationen. Dies wird an den Bildungsinvestitionen deutlich. Gute, gebührenfreie Kindergärten, Schulen und Hochschulen – solidarisch von der heutigen Generation finanziert - sichern die Zukunftschancen der jungen Generation. Ineffizient ist es, die Menschen in Arbeitslosigkeit verharren zu lassen und die junge Generation von Bildungschancen auszuschließen.

Die wichtigste Zukunftsinvestition ist die Bildung. Sie fängt schon im Kindergarten an. Sie geht durch die allgemeinbildenden Schulen, die berufliche Bildung, die Hochschulen und die Weiterbildung bis ins Alter. Berufliche Bildung und Allgemeinbildung sind gleich wichtig. Auf die Steigerung der Effizienz des gesamtgesellschaftlichen Gefüges und der Produktivität im Arbeitsprozess ist insbesondere die berufliche Aus- und Weiterbildung bezogen. Hier sind Defizite zu beheben, die sich in dem zurückgehenden Angebot an beruflichen Ausbildungsplätzen und im Rückgang der Ausgaben für die berufliche Weiterbildung zeigen. Außerdem verhält sich eine Gesellschaft mit einer guten Berufsausbildung solidarisch mit der Generation der noch nicht Erwerbstätigen.

Bessere Bildung ist gerecht. Die Forderung von John Rawls nach Chancengleichheit muss ihren Niederschlag in einer verbesserten Bildung finden. Hier liegt vieles im Argen. PISA bringt es an den Tag. Wir brauchen Schulen, die soziale Benachteiligungen nicht noch verstärken wie gegenwärtig, sondern abbauen. Wir brauchen mehr und bessere Angebote von Plätzen in der dualen Berufsausbildung. Wir brauchen eine bessere und umfangreichere Weiterbildung. Eine Gesellschaft, die das Postulat der Gerechtigkeit und der Solidarität auf ihre Fahnen schreibt, muss die sozialen Sicherungen erhalten und die Bildung, auch und gerade die berufliche Aus- und Weiterbildung, verbessern. Das ist sozial und gerecht. Das ist auch aus wohlfahrtsökonomischer Sicht effizient, denn Bildungsinvestitionen sind Zukunftsinvestitionen.

Der Beitrag von Bernhard Nagel befindet sich in der Langfassung von
„Bildung ist keine Ware“
Beiträge der Mitglieder des wissenschaftlichen Beraterkreises der Gewerkschaften ver.di und IG Metall

Sie finden dort insgesamt 16 Beiträge zum Bereich der Berufsbildungs- und Weiterbildungspolitik.

Sie können die Langfassung hier als pdf-Datei herunterladen.

Verweise zu diesem Artikel:
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 02.02.2006