Grundsätzliches zur Weiterbildung

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Mechthild Bayer / Klaus Heimann

Eine gewerkschaftliche Finanzierungsstrategie für die Weiterbildung

Die Gewerkschaften haben für die Finanzierung der Weiterbildung bisher noch kein konsistentes und abgestimmtes Konzept, wie dies für die berufliche Erstausbildung der Fall ist. Das ist sicher nicht nur in der Tatsache begründet, dass es sich bei der Weiterbildung in Deutschland um ein komplexes System mit verschiedenen, relativ strikt voneinander getrennten Teilsegmenten (betriebliche Weiterbildung, individuelle Weiterbildung, Weiterbildung für Arbeitslose als Teil der Arbeitsmarktpolitik) und dementsprechend auch unterschiedlichen Finanzierungsstrukturen bzw. einen Finanzierungsmix handelt, sondern auch darin, dass die Gewerkschaften erst auf dem Weg sind, Weiterbildung als eine ihrer wichtigsten Zukunftsaufgaben nicht nur zu definieren, sondern dieser Erkenntnis auch praktische Politik folgen zu lassen. Die Rolle der beruflichen Erstausbildung erodiert nicht absolut, aber relativ. Je deutlicher wird, dass die Verfügung über Wissen, das ständig auf der Höhe der Zeit gehalten werden muss, zur zentralen Voraussetzung für die Sicherstellung des Verkaufs der Arbeitskraft wird, desto deutlicher wird den Gewerkschaften die Gefahr, dass ihr Einfluss auf die Beschaffenheit der Arbeitsmärkte abnehmen wird, wenn sie nicht als kompetenter Akteur mit regulierend in die Aus- und Weiterbildung eingreifen, also Bildungschancen eröffnen, die Inhalte bzw. Anforderungen definieren, die Qualität kontrollieren und zertifizieren, für Marktgängigkeit der Abschlüsse sorgen sowie Zeit und Finanzierung sichern. Um die Diskussion über Finanzierungsstrategien zu befördern und ausreichende Grundlagen zu schaffen, unterstützen ver.di und IG Metall die Herausgabe dieses Bandes und haben die Gutachten von Ingrid Drexel zum System der Finanzierung in Frankreich (2003) sowie von Roman Jaich zur Wirkung von Gutscheinen, Konten und Fonds gefördert und veröffentlicht (2004).

Für den jetzigen Stand der Überlegungen sollen im Folgenden Eckpunkte dargestellt werden.

1. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft hängt immer mehr von ihrer Innovationskraft und der Qualifikation der Beschäftigten ab. Deutschland steht im Wettbewerb mit anderen hochentwickelten Volkswirtschaften. Exportorientierte Volkswirtschaften können ihr Wohlstandsniveau nur so lange halten, wie sie in der Lage sind, Produkte und Dienstleistungen anzubieten, die andere Länder nicht herstellen können, aber benötigen. Um dies zu erreichen, richtet sich der Wettbewerb der großen Volkswirtschaften inzwischen darauf ein, die besten Voraussetzungen für Innovationen zu schaffen. Menschliche Kreativität und Umsetzungsfähigkeit sind und bleiben dabei der Schlüssel zu erfolgreichen Innovationen. Deren Qualität wird dabei nicht zuletzt von sozialen und infrastrukturellen Faktoren bestimmt, wie z.B. der Unternehmenskultur, der Arbeitsgestaltung, den Partizipationsmöglichkeiten, dem gesellschaftlichen Umfeld und der Ausgestaltung von Bildungssystemen, sozialer Sicherheit und Regulierung. Immer wieder werden Innovationen allein und vorrangig auf technischen Entwicklungspfaden gesucht und insbesondere als Ergebnis von Technologieentwicklung beschrieben. Unbestreitbar ist die Wettbewerbsfähigkeit ohne die ständige Entwicklung und den Einsatz internationaler Hoch- und Spitzentechnologie nicht zu halten. Letztendlich aber müssen nicht technisch hochentwickelte Produkte, sondern erfolgreiche Problemlösungen angeboten werden, die individuell am Markt oder als öffentliche Güter nachgefragt werden. Hierbei sind Kompetenz, Technologie, Güter und Dienstleistungen miteinander in Art und Umfang ganz unterschiedlich verzahnt. Zum entscheidenden strategischen Faktor werden die Investitionen in Bildung und Ausbildung, und die Frage lautet: Wie gelingt es einer Gesellschaft, ihre Wissenspotenziale zu mobilisieren? Die Länder mit dauerhaftem wirtschaftlichen Wachstum haben alle mit langem Atem in Bildung, Forschung und Infrastruktur sowohl qualitativ wie quantitativ investiert. So werden in Ländern, die nicht nur ihre Bildungssysteme qualitativ erfolgreich verbessert haben, bis zu zwei Prozentpunkte mehr anteilig am Bruttosozialprodukt für Bildung ausgegeben als in Deutschland. Die Frage ist nicht, wenn auch von neoliberaler Seite in Politik und Wirtschaft immer lauter vorgetragen, wie durch stärkere Einschnitte in die Verteilungspolitik Wachstum zu erzielen ist. Den Wettlauf um die billigste Hose, den billigsten Kotflügel oder das billigste Bus- bzw. Reiseunternehmen kann Deutschland nicht in Europa und schon gar nicht weltweit gegen die internationale Konkurrenz gewinnen. Die Frage ist vielmehr, ob und wie es gelingt, einen Gestaltungsweg der Arbeitsgesellschaft der Zukunft einzuschlagen, der auf Qualifikation, Innovation und Chancengleichheit setzt und damit auf eine dauerhafte, qualitätsorientierte Wachstumsstrategie.

2. Ein Vergleich mit erfolgreicheren Nationen lässt erkennen, dass die in Deutschland bestehende Massenarbeitslosigkeit Folge einer in vielen Bereichen unserer Gesellschaft nachlassenden Innovationsdynamik ist, in der jahrzehntelange Fehlsteuerungen in der Bildungs-, Forschungs- und Technologiepolitik eine zentrale Rolle spielen. Wachstums- und Innovationsschwächen macht die Expertenkommission Finanzierung lebenslangen Lernens in ihrem Abschlussbericht 2004 an folgenden Indikatoren fest:
  • die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts liegen deutlich unter dem Durchschnitt vergleichbarer Länder,
  • das Arbeitsvolumen schrumpft überdurchschnittlich bzw. wächst unterdurchschnittlich,
  • die Arbeitsproduktivität zeigt in Deutschland seit 20 Jahren unterdurchschnittliche Entwicklungsraten,
  • die Investitionen in das Humankapital und in Forschung und Entwicklung stagnieren in ihrer relativen Bedeutung seit 1989,
  • die deutschen Betriebe der Hochtechnologie haben eine deutlich niedrigere Wachstumsrate der Produktivität als in Vergleichsländern,
  • der Anteil der Bildungsausgaben für Schule und Erstausbildung am Bruttoinlandsprodukt liegt deutlich unter dem OECD-Durchschnitt,
  • die Investitionen in Bildung fallen unter die Investitionen in Sachkapital zurück (vgl. Expertenkommission... 2004: 20-24).
Die Bilanz der Expertenkommission lautet: "Obwohl (der) Leistungsfähigkeit und der Qualität des Schul-, Berufsbildungs-, Hochschul- und Weiterbildungssystems eine Schlüsselrolle für die langfristige und nachhaltige Entwicklung von Wettbewerbsfähigkeit, Standortattraktivität, Produktivitätswachstum und Wachstumstempo (zukommt) ..., zeigen die wenigen internationalen Vergleiche, dass Deutschland die wichtigste Ressource für seine wirtschaftliche Entwicklung aufs Spiel setzt" (ebd.: 23). Für das deutsche berufliche Weiterbildungssystem werden die Ergebnisse aller relevanten Untersuchungen bestätigt. Sowohl der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit 2002, die Weiterbildungserhebungen CVTS I + II der Europäischen Kommission 2000 (vgl. Moraal/Schönfeld in diesem Band) als auch Berichte des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zur Entwicklung des Qualifikationsbedarfs 2003 und zum betrieblichen Engagement (vgl. Bellmann/Leber in diesem Band) attestieren Deutschland eine erhebliche Unterinvestition in Weiterbildung. Seit Mitte der 1990er Jahre stagnieren die Weiterbildungsausgaben der Betriebe, die Ausgaben der öffentlichen Hand sind rückläufig. Daneben verzeichnen wir absolut und relativ steigende Ausgaben der privaten Haushalte. Weiterbildung ist infolgedessen hoch selektiv und erreicht viele gar nicht. Auch im internationalen Vergleich ist die Weiterbildungsbeteiligung zu niedrig. Die deutschen Unternehmen schöpfen das Lern- und Leistungspotenzial ihrer Belegschaften nicht ausreichend aus. Viele durch gesellschaftliche Entwicklungen, wie z.B. durch den drohenden Fachkräftemangel als Folge demografischer und qualifikatorischer Trends geforderter Lösungsansätze werden nicht realisiert. Damit ist das deutsche Weiterbildungssystem finanziell und konzeptionell nicht zukunftsfähig und wird selbst zur Innovations- und Wachstumsbremse. Die gewerkschaftliche Initiative für Bundesregelungen in der beruflichen Weiterbildung (ver.di, IG Metall, GEW 2002; vgl. Bayer 2002) weist seit langem auf gravierende Strukturdefizite hinsichtlich Zeit, Finanzierung, Information und Transparenz, Qualität und Verwertung hin und fordert, dass in öffentlicher Verantwortung Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit lebenslangens Lernen zum selbstverständlichen und kalkulierbaren Teil von Biographien werden kann. Ohne mehr Bereitschaft zu strukturellen Reformen werden die Aufforderungen von OECD und EU, vermehrt lebenslanges Lernen zu fördern, ins Leere laufen, und die allseits, oft sogar noch von den verursachenden Akteuren selbst kritisierte Diskrepanz zwischen Postulat und Realität wird zum Ausdruck weit verbreiteter und akzeptierter symbolischer Politik.

3. Die Auflösung der bekannten Strukturprobleme erfordert eine tragfähige Finanzierungsbasis. Sicherlich ist die Reform der beruflichen Weiterbildung nicht nur eine Frage des Finanzierungsmodus. Die Finanzierung ist aber eine, wenn auch nicht hinreichende, so doch notwendige, Bedingung mit hoher Priorität. Das zeigen nicht nur empirische Studien über Weiterbildungsabstinenz, bei denen in Interviews als Ursache der Vermeidung von Weiterbildung zu hohe Teilnahmekosten und private Zeitinvestition an erster Stelle stehen, vor nicht absehbarem Arbeitsmarktnutzen, mangelnden Verwertungsmöglichkeiten und mangelnder Honorierung des Gelernten, mangelnden Erfolgsaussichten, Furcht vor zu hohen Belastungen, systematischer Ausgrenzung Älterer, fehlender Teilnehmerorientierung verbunden mit unzureichender Qualifizierung des Personals, mangelnden Qualitätskontrollen sowie unzulänglicher Ausstattung der Weiterbildungsträger (vgl. Bolder/Hendrich 2000). Für die hohe Relevanz der Finanzierung sprechen auch theoretisch plausible Argumente (vgl. Nagel/Jaich und Zinn in diesem Band) ebenso wie die Vergleiche mit anderen europäischen Ländern, die mit der gesellschaftlichen Regulierung ihres Finanzierungssystems z.B. durch Fonds auch eine qualitativ neue verbesserte Steuerung des Gesamtsystems Weiterbildung erreicht haben (vgl. Drexel und Moraal/Schönfeld in diesem Band).

4. Weiterbildung kostet Geld und muss auf eine neue gesellschaftliche Basis gestellt werden. Die Frage lautet: Wer trägt den Aufwand bei wachsendem Bedarf? Während über Notwendigkeit von mehr Weiterbildung ein breiter gesellschaftlicher Konsens herrscht, gibt es für die Finanzierung ganz unterschiedliche Gestaltungsoptionen von mehr Eigenverantwortung, Sharing-Modellen der Aushandlung von Zeit/Geld und Fonds, die in ganz unterschiedlicher Weise die Investition von Staat, Betrieben und Individuen fördern und auch die Diskussionen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft prägen bzw. dominieren. Wie sie in strategischen Konzepten der Gewerkschaften zu bewerten sind, hängt von einigen grundsätzlichen Anforderungen ab, die wir an Finanzierungsmodelle als Instrumente der Lastenverteilung und Steuerung stellen. Sie sollten
  • an Prinzipien der Gerechtigkeit und Chancengleichheit orientiert sein und den solidarischen Zusammenhalt der Gesellschaft verbessern,
  • die Weiterbildungsteilnahme für alle erhöhen und die massive Selektion bisher benachteiligter Gruppen begrenzen durch Mobilisierung ihrer Weiterbildungsbereitschaft und -fähigkeit,
  • eine Weiterbildungsoffensive befördern, die Teil und zugleich Triebkraft eines gesellschaftlichen Innovationspfades ist und präventive Wirkung entfalten kann,
  • öffentliche Verantwortung begründen für Weiterbildung als besonderes Gut, bei dem radikale Marktsteuerung zu Unterinvestitionsrisiken und Chancenungleichheit führt wegen Informations- und Transparenzdefiziten auf den Märkten, nicht kalkulierbaren Konsequenzen, Risikoaversion aufgrund unüberschaubarer Kosten-Nutzen-Relation und entsprechend begrenzter Rationalität. In einer Wirtschaft und Gesellschaft, die kurzfristig auf Kosten schaut und in der alle Akteure marktkonform nach Kosten-Nutzen-Bilanzierungen nur in die Bildungsmaßnahmen investieren, die sich für sie auszahlen, werden als Resultat dieser Ökonomisierung zu wenig Ressourcen für lebenslanges Lernen zur Verfügung stehen.
  • den Erwerb von ganzheitlichen, komplexen Qualifikationen ermöglichen mit ausreichend allgemeinem, sozialem und beruflichem Basiswissen, arbeitsplatzübergreifendem Verstehen und Können statt Fragmentierung und Reduktion auf kurzfristig nur dem aktuellen betrieblichen Bedarf untergeordnete Anpassungsmaßnahmen. Es geht um mittel- und langfristige Bildungsinteressen im Sinne einer nachhaltigen Förderung der beruflichen Entwicklungschancen der Lernenden.
  • zu verlässlichen und fundierten Verteilungsmustern führen, die das Prinzip der Verteilung der Kosten nicht nur den marktmäßigen Kräften überlassen, sondern Verbindlichkeit und Planungssicherheit für alle Beteiligten herstellen. Der bestehende, historisch entstandene, hoch differenzierte und intransparente Finanzierungsmix muss gezielt gestaltet werden, um zu einem Gesamtkonzept der Bildungsinvestitionsförderung zu kommen, das durch eine Kombination von Instrumenten die Ressourcen effektiver bündelt und die Tarifvertragsparteien und den Staat als zentrale Akteure besser einbinden kann.
5. In Bezug auf diese Zielsetzungen erweist sich das Strukturmodell der Eigenverantwortung als defizitär. Ingrid Drexel hat in ihrem Beitrag in diesem Band die damit verbundenen Restriktionseffekte in Zeiten sinkender Reallöhne und Arbeitszeitverlängerung dargestellt, vor allem hinsichtlich der Gefährdung der Weiterbildungsteilnahme und hier insbesondere der Geringqualifizierten, der Gefährdung der employability der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der mangelnden Tauglichkeit, dem Requalifizierungsbedarf bei Betriebs- und Branchenkrisen gerecht zu werden.

Aus Sicht der Gewerkschaften höchst bedenklich sind nicht nur die hohe private Investition in Weiterbildung und der zunehmende Trend zur Privatisierung (vgl. Dobischat u.a. 2003; Beicht u.a. 2004; Expertenkommission... 2002), sondern ihre wachsende Propagierung als Zukunftsentwurf. Nach Auffassung des Sachverständigenrates zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung – so in seinem Jahresgutachten 2000/2001 – sollen die steigenden Aufwendungen der Individuen für berufliche Weiterbildung weiter ausgebaut werden. Dieser Position folgt auch Prognos im letzten Deutschlandreport 2004. Jeder Bundesbürger soll bis 2020 deutlich mehr als bisher, mindestens aber 300 Euro jährlich aufbringen. Ideologisch abgestützt werden diese Positionen durch Konzepte der Selbstorganisation und die Leitfigur des Arbeitskraftunternehmers in einer die überkommene "Arbeitsgesellschaft" mit sozialstaatlicher Verantwortung ablösenden "unternehmerischen Wissensgesellschaft", wie sie die Bayerisch-Sächsische Zukunftskommission definiert (1998). Als Ideal und zugleich Leitbild gilt das autonome, risikobereite Individuum, das in diesem Markt eigenständig und eigenverantwortlich agiert. Das Individuum soll sich immer mehr persönlich engagieren, Risiken eingehen, seine berufliche Karriere planen und selbst für seine Sicherheit garantieren. Pongratz feilt diesen Leittypus weiter aus, indem er den Arbeitskraftunternehmer als neue Grundform der Ware Arbeitskraft sieht und ihre typischen Qualitäten beschreibt als "Selbstkontrolle – aktive Selbststeuerung" der eigenen Arbeit im Sinne der Unternehmenserfordernisse, "Selbstökonomisierung" = strategische Selbstvermarktung eigener Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt und "Selbstrationalisierung" = aktive, auf den Erwerb ausgerichtete, alle individuellen Ressourcen nutzende systematische Durchgestaltung des gesamten Lebenszusammenhangs (vgl. Pongratz 2000: 24-26). Dabei droht sich der neoliberale Weg in der Weiterbildungsdiskussion immer mehr zum Mainstream zu entwickeln. Im Kern orientiert die neoliberale Strategie auf die alleinige Verantwortung der Menschen für ihren Bildungsverlauf. Unter dem Deckmantel aufklärerischer Begrifflichkeit der Selbstbestimmung wird Weiterbildung zur Pflicht, zur Bringschuld des Einzelnen. Wachsender Bedarf soll so realisierbar werden bei gleichzeitiger Begrenzung und Entlastung des Aufwands für Betriebe und Gesellschaft. Lernrisiko wird privatisiert. Es sind die Gewinner, auf die sich die neoliberale Offensive im Weiterbildungsbereich stützt. Wer draußen bleibt, hat eben nicht genug oder das Falsche gelernt. Mit dem Brustton der Progressivität vorgetragen, geht es in Wirklichkeit um die Legitimierung von Ausgrenzung in einem Politikmodell, das sich über Flexibilisierung, Deregulierung und Privatisierung vom Sozialstaat verabschiedet.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage der zukünftigen Gestaltung der Weiterbildung als durchaus zugespitzt alternativ dar: Auf der einen Seite ein individualisiertes System, das auf Weiterbildung als normative Verpflichtung des Einzelnen setzt, und auf der anderen Seite ein solidarisches System, das allen mehr Teilnahme und Lernmöglichkeiten durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen ermöglicht. Für die Förderung eines solidarischen Systems scheint uns die Schaffung von Fonds ein unverzichtbares Instrument. Bevor wir dieses näher diskutieren, möchten wir zunächst die Debatte um Konzepte des Zeit- und Kostensplitting (also Bildungsinvestitionen gefasst in Zeit- und Geldeinheiten, die gegeneinander konvertierbar sind) zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf der betrieblichen Ebene darstellen, die wir auch in mittelfristiger Sicht nicht werden ausklammern können.

In der Praxis scheint dieses sharing weiter verbreitet, als den Gewerkschaften lieb sein kann. Zwar zeigt das IAB-Betriebspanel von 1999, dass in über der Hälfte der Betriebe Weiterbildungsaktivitäten ausschließlich während der Arbeitszeit stattfinden, während sie in einem nur geringen Teil der Betriebe vollständig in der Freizeit liegen. In kleineren und mittleren Betrieben bringen die Beschäftigten eher Freizeitanteile ein bzw. werden Weiterbildungsmaßnahmen vollständig in die Freizeit verlagert (vgl. Beitrag Bellmann/Leber in diesem Band). Grünewald u.a. (vgl. 2003) berichten, dass knapp vier von zehn Betrieben beabsichtigen, Teile der Weiterbildung zukünftig stärker in die Freizeit zu verlagern. Vereinbarungen wie bei der "Auto 5000 GmbH", wo die gesamte betriebsnotwendige sowie im Interesse der Beschäftigten liegende Weiterbildung von drei Stunden pro Woche jeweils hälftig als bezahlte Arbeitszeit und als Freizeit aufgebracht wird, werden die Debatte und die schleichende Erosion des bislang gültigen Prinzips, das Lernzeit als Arbeitszeit definiert, beschleunigen. Was die Aufteilung der direkten Kosten bzw. die monetäre Beteiligung betrifft, so tragen nach den Ergebnissen des oben zitierten Betriebspanels von 1999 (vgl. den Beitrag von Bellmann/Leber in diesem Band) rund 73% der Betriebe die direkten Kosten alleine, in gut einem Viertel kommt es zu einer Beteiligung der Arbeitnehmer. Für den Bereich der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württembergs zeigen die Betriebsbefragungen im Rahmen der Evaluation des Qualifizierungstarifvertrags ein bemerkenswertes Splitting. Demnach übernimmt der Arbeitgeber lediglich in einem Drittel der Betriebe immer auch alle Kosten der Maßnahme und bezahlt die einzubringende Zeit wie Arbeitszeit. In einem Viertel ist die Aufteilung der Kosten die Regel, in etwas mehr als 40% wird von Fall zu Fall entschieden. Teils werden die Kosten vom Arbeitgeber übernommen, teils geteilt. Wenn die Kosten aufgeteilt werden, geschieht dies überwiegend, indem die Beschäftigten Zeit einbringen (vgl. Bahnmüller, Fischbach 2003).

Relativ lautlos könnten so gegenwärtig verteilungspolitische Weichen gestellt und ein Verteilungskonflikt entschieden werden, bei dem auch in Sharing-Modellen unter dem Deckmantel gerechter Lastenaufbringung der Zug vor allem in eine Richtung zu fahren droht. Die Richtung heißt Überwälzung der Kosten auf die Beschäftigten, v.a. wenn man die Tatsache der stagnierenden bzw. zurückgehenden betrieblichen Investitionen im Auge hat. Die Gewerkschaften müssen deshalb, um problematische Entwicklungen zu stoppen, die Verteilungsfrage explizit aufgreifen und angemessene Regulierungen entwickeln.

Nun trifft es zu, dass bei Co-Investitionen die gleichen Restriktionseffekte in Bezug auf die Teilnahme sowie Effizienzprobleme in Bezug auf mittel- und langfristige Interessen auch der Wirtschaft an kontinuierlich zur Verfügung stehenden Qualifikationen entstehen, wenngleich in abgemilderter Form. Ebenso zeichnet sich aber auch ab, dass die Gewerkschaften wahrscheinlich um gewisse Kompromisse nicht herum kommen werden. Dies gilt nicht nur für die Regulierung bereits entstandener Praktiken der Co-Investition, sondern auch für zukünftige Strategien. Unstrittig ist dabei, dass die Forderung nach einem Recht auf Weiterbildung als Ausdruck des Anspruchs auf Qualifizierung in Wissensgesellschaften weiterhin im Zentrum gewerkschaftlicher Weiterbildungspolitik stehen sollte. Dies gilt unabhängig davon, ob man einen gleichen zeitlichen Anspruch für alle fordert oder wie in der Metallindustrie Baden-Württembergs ein für jeden geltendes Recht auf ein Qualifizierungsgespräch.

Unstrittig ist auch, dass bei den im direkten betrieblichen Interesse liegenden und vom Arbeitgeber veranlassten Weiterbildungsmaßnahmen auch die volle Übernahme der Kosten von Seiten des Arbeitgebers gelten muss, also der Privatisierung klare Grenzen gesetzt werden und auch im Vorfeld von Verhandlungen keine Eigenbeteiligung angeboten werden darf. Bei Maßnahmen, die nicht zwingend im betrieblichen Interesse liegen bzw. jenseits des absehbaren betrieblichen Bedarfs angesiedelt sind, kann über Sharing-Modelle nachgedacht werden. Allerdings werden sich die Konflikte vermutlich genau an der Schnittstelle/Grenze zwischen persönlicher und betrieblicher Veranlassung bzw. zwischen persönlicher und betrieblicher Verwertbarkeit bewegen. Denn es ist wohl wahr, dass persönliche Weiterbildung dem Betrieb nutzt und betriebliche Weiterbildung persönlichen Nutzen bringen kann. Die Grenzen sind schwer zu ziehen, es muss daher Aushandlungsprozesse auch in den Betrieben darüber geben, wer die Kosten im Einzelfall trägt. Dazu müssen Verfahren und Strukturen der Konfliktlösung in tariflichen Vereinbarungen festgelegt werden.

Die Diskussion über die verschiedenen Ansätze der Regulierung ist im Gange und darf keineswegs als abgeschlossen bezeichnet werden. So unterscheidet der Qualifizierungstarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie Baden-Württembergs zwischen betrieblicher und persönlicher Weiterbildung. Während bei der betrieblichen Weiterbildung der Arbeitgeber die Kosten übernimmt und die Maßnahmen im Rahmen der bezahlten Arbeitszeit stattfinden, erfolgt bei persönlicher Weiterbildung ein Freistellungsanspruch und die Kostenübernahme durch die Beschäftigten. Die Zeit der Qualifizierungsmaßnahmen gilt als Arbeitszeit. Qualifizierung außerhalb der vereinbarten täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit wird zuschlagsfrei vergütet. Durch eine umfassende und innovative Definition des Weiterbildungsbegriffs hat die IG Metall durchgesetzt, dass die Maßnahmen, die als betriebliche zu gelten haben, weit ausgedehnt und so die Anlässe für persönliche Weiterbildung begrenzt werden.

Damit der Qualifizierungsbedarf nicht nur nach dem problematischen Leitbild der Anpassungsqualifizierung organisiert und die Qualifizierungsfrage einseitig dem aktuellen, betrieblichen Bedarf untergeordnet, sondern auch mittel- und langfristige Bildungsinteressen gefördert werden (vgl. den Beitrag von Allespach in diesem Band) unterscheidet der Tarifvertrag zwischen
  • Anpassungsqualifizierung mit dem Ziel, veränderte Anforderungen im eigenen Aufgabengebiet erfüllen zu können, und
  • Erhaltungsqualifizierung mit dem Ziel, die ständige Fortentwicklung des fachlichen, methodischen und sozialen Wissens im Rahmen des eigenen Aufgabengebietes nachvollziehen zu können. Dazu gehört auch das berufliche Basiswissen. Während die Anpassungsqualifizierung einen deutlichen Anforderungsbezug hat, nimmt Erhaltungsqualifizierung zusätzlich die jeweils individuelle Qualifikation in den Blick.
  • Qualifizierung zur beruflichen Entwicklung mit dem Ziel, eine andere gleich- oder höherwertige Arbeitsaufgabe für zu besetzende Arbeitsplätze übernehmen zu können. Dies gilt insbesondere beim Wegfall von Arbeitsaufgaben (vgl. Huber/Allespach 2002: 78).
Ver.di hat einen "Musterqualifizierungstarifvertrag" als Grundlage für die innergewerkschaftliche Diskussion vorgelegt, in dem Kosten- und Zeitbeteiligung der Beschäftigten bei Maßnahmen, die nicht eindeutig im betrieblichen Interesse liegen, akzeptiert werden und dieser Tatbestand selbst zum Gegenstand der Regulierung im Tarifvertrag gemacht wird. So heißt es dort:
  • Alle Kosten der beruflichen Weiterbildung im Sinne des § 2 (Weiterbildungsbegriff analog dem oben beschriebenen Qualifizierungstarifvertrag von Baden-Württemberg) trägt grundsätzlich der Arbeitgeber. Eine Kostenbeteiligung der Beschäftigten ist durch freiwillige Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung zulässig. Dabei gilt folgender Grundsatz: Die Kosten der Teilnahme an einer Weiterbildungsmaßnahme sind je nach Verwertbarkeit der Kenntnisse, die in einer Weiterbildungsmaßnahme vermittelt werden und je nach Veranlassung der Teilnahme zwischen dem Arbeitgeber und der/dem Beschäftigten aufzuteilen. Die Kostenbeteiligung ist auf 50% der Teilnahmekosten begrenzt.
  • Alle Beschäftigten haben einen Anspruch auf bezahlte Freistellung von fünf Arbeitstagen pro Jahr, die in ein Lernzeitkonto eingestellt werden können. Ergänzend zu diesem Anspruch ist eine Beteiligung der Beschäftigten an der Freistellung für die berufliche Weiterbildung bis zu fünf Arbeitstagen pro Kalenderjahr zulässig. Dazu sind ausschließlich Zeitguthaben aus Mehrarbeit und die entsprechenden Zuschläge sowie vorhandene Gleitzeitguthaben zu verwenden (vgl. Bayer/Haag 2003: 19-20).
Damit ist der zunehmend in die Diskussion kommende Vorschlag, Lernzeitkonten einzurichten und Verkürzungen bzw. Verlängerungen der Arbeitszeit für die Weiterbildung zu reservieren oder bei bestehenden Zeitguthaben den Verwendungsanspruch auf Weiterbildung auszudehnen (vgl. Seifert 2003; Expertenkommission Finanzierung lebenslangen Lernens 2004), auf dem Tisch und die Frage, ob und inwieweit beides Impulse für die betriebliche Weiterbildung geben kann, gestellt.

6. Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass Modelle der Co-Investition zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern letztlich Kompromissformeln sind, die wegen den damit verbundenen unterschiedlichen Einschränkungen nicht geeignet sind, qualitativ neue Weiterbildungsentwicklungen auszulösen bzw. nur eingebettet in eine umfassendere Gesamtlösung mittel- und langfristig vertretbar sind.

Mit Weiterbildungs-Fonds als kollektivem Finanzierungsinstrument scheint es dagegen möglich, die Restriktionseffekte anderer Modelle zu vermeiden und ein System lebenslangen Lernens für alle tatsächlich auch zu realisieren. Und daran müssen sich alle in der politischen Debatte vorgeschlagenen Finanzierungsmodelle letztlich messen lassen: nämlich ob es mit ihnen gelingt, ein neues Weiterbildungssystem in Deutschland zu begründen und durch realistische kurz-, mittel- und langfristig umsetzbare Handlungsschritte mehr Ressourcen bei wachsendem Bedarf zu generieren.

Die Relevanz, Wirkungsweise und Ausgestaltungsmöglichkeiten von Weiterbildungsfonds sind in den Beiträgen von Drexel, Jaich, Moraal und Nagel in diesem Band ausführlich beschrieben worden. Es wird dabei deutlich, dass sie in der Lage sind, Grundanforderungen an ein Finanzierungssystem zu erfüllen, wie sie sich aus gewerkschaftlicher Perspektive stellen.

Wir möchten daher die Vorteile von Fondslösungen nicht erneut aufzählen, sondern zusammenfassend einige Essentials festhalten, die im Zusammenhang mit einer gewerkschaftlichen Strategie zum Ausbau der Weiterbildung relevant sind:
  • Sie vermeiden finanziell und zeitlich bedingte Motive der ArbeitnehmerInnen für Weiterbildungsabstinenz, weil die Kosten durch die Fonds getragen werden.
  • Sie wirken auch Sparinteressen des einzelnen Betriebs entgegen, weil durch den Pflichtbetrag der Mindestaufwand feststeht und damit der Umfang der Weiterbildungsteilnahme von den entstehenden Kosten entkoppelt ist. Strukturbedingte Unterinvestitionen, resultierend aus dem Dilemma langfristig wirksamer Weiterbildungsaufwendungen und kurzfristig wirksamer betriebswirtschaftlicher Kalküle sowie Wettbewerbsverzerrungen, die durch die Belastung mit Weiterbildungskosten entstehen, können minimiert und Defizite wie der Trend zu sinkendem Volumen und Fokussierung auf kurzfristige betriebliche Anpassungsmaßnahmen gestoppt werden.
  • Sie vermeiden oder mildern die konjunkturelle Abhängigkeit von Weiterbildungsangeboten.
  • Sie stehen auch in Krisenzeiten zur Verfügung, und es können Ressourcen gebündelt werden für die Bewältigung von Problemsituationen, die den einzelnen Betrieb überfordern.
  • Sie können die besondere Situation von kleineren und mittleren Betrieben auffangen, wenn gleichzeitig weitere spezielle Angebote, wie z.B. Weiterbildungsverbünde, geschaffen werden.
  • Sie sind geeignet, die Teilnahme aller betroffenen Gruppen zu erreichen und die Diskriminierung und Ausgrenzung gering Qualifizierter durch Konzentration auf Problemgruppen abzubauen.
  • Sie werden der Tatsache gerecht, dass Weiterbildung nicht ausschließlich Angelegenheit des einzelnen Unternehmens und noch weniger Angelegenheit des einzelnen Arbeitnehmers ist, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe.
  • Sie können dauerhaft zu einer insgesamt weiterbildungsaktiven Gesellschaft beitragen, weil sie über die quantitative Steuerung hinaus in der Lage sind, qualitative Wirkungen zu erzielen. Durch Kombination der Steuerungsmöglichkeiten der Nutzer (Arbeitnehmer und Betrieb) und der gesellschaftlichen Akteure (Tarifparteien und Staat) entstehen notwendige gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Sie machen es möglich, strukturelle Verwerfungen zwischen beruflichen Lernangeboten und der Nachfrage nach ihnen zu minimieren, strukturelle Ungleichgewichte zwischen beruflichen Lernangeboten und Qualifikationsbedarfen zu mildern oder zu vermeiden, die Entwicklung und Implementierung eines branchenbezogenen modularen Weiterbildungssystems nachhaltig zu fördern und höhere Weiterbildungsqualität zu erreichen.
Auch die Erfahrungen mit der Praxis von Fondsystemen in anderen europäischen Ländern sind positiv. So zeigt die empirische Analyse des in 30 Jahren in Frankreich entwickelten Systems einer Fondslösung in Kombination mit Pflichtbeiträgen aller Unternehmen viele positive Effekte:
  • Die aufgewandten Mittel und Teilnehmerzahlen haben sich kontinuierlich positiv entwickelt.
  • Durch die Rechtspflicht der Unternehmen, entweder selbst in Weiterbildung oder Geld in den Fonds zu investieren, wurde die berufliche Weiterbildung für jeden einzelnen Beschäftigten zu einer festen, planbaren Größe.
  • Die geschaffenen Fonds haben das System stabilisiert und es von konjunkturellen Schwankungen unabhängiger gemacht.
  • Das gefundene Modell der Steuerung durch die Sozialparteien ist der Schlüssel für die breite Akzeptanz der beruflichen Weiterbildungsstrukturen (vgl. Bayer/Heimann 2003: 11).
Sie ermutigen uns, die Schaffung von Weiterbildungsfonds als Schlüssel zur Lösung der Finanzierungsfrage in die gewerkschaftliche Diskussion und öffentliche Debatte einzubringen. Denn solange Erwerbstätigkeit weiterhin zentrales gesellschaftliches Strukturprinzip und individueller Identitätsaspekt bleibt, entscheidet sich hier die Zukunft lebenslangen Lernens. Keine noch so ausgefeilten individuellen Finanzierungsinstrumente zur Erhöhung der Partizipation an Weiterbildung in Form von Darlehen und Zuschüssen (vgl. die Vorschläge der Expertenkommission Finanzierung lebenslangen Lernens für ein einheitliches Bildungsförderungsgesetz und staatliche Förderung des Bildungssparens) und ebenso wenig die besondere Berücksichtigung der Weiterbildungsbedarfe und der finanziellen Lage benachteiligter Zielgruppen können so wirksam wie ein Umlagesystem eine Weiterbildungsoffensive in Gang setzen, die für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in allen Branchen und Betrieben, sozusagen als große Lösung, neue Voraussetzungen schafft.

Richtig ist: Die Finanzierung der Weiterbildung über Fonds, wie z.B. in Frankreich, beschränkt sich auf den beruflichen Bereich, und sie erfasst nur Arbeitnehmer, die in Lohn und Brot stehen, also nicht Arbeitslose, Selbstständige, in prekären Verhältnissen Beschäftigte sowie Nichterwerbstätige. Sicherlich sind deshalb weitere Finanzierungsinstrumente notwendig. Die Analyse und Modelle, die hierzu neben der Expertenkommission von Nagel/Jaich (2004) und speziell für die SGB III geförderte Weiterbildung von Faulstich, Gnahs und Sauter (2004) sowie Sauter und Kühnlein in diesem Band vorliegen, müssen noch diskutiert werden. Was wir aber deutlich kritisieren, ist die Gewichtung des kollektiven Finanzierungsmodells der Fonds in der Architektur der Vorschläge der Expertenkommission. Sie basiert auf der Reduktion seiner Reichweite durch den vorgeschlagenen Weg, nämlich der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von freiwilligen Vereinbarungen zur Umlage und der Konzentration auf die spezifische Zielgruppe der Leiharbeiter wegen ihrer besonderen Arbeitsmarktrisiken. Diese bleiben unbegründet und haben Bernhard Nagel als Mitglied der Kommission zu dem Minderheitenvotum veranlasst, Fonds nach französischem Vorbild auf gesetzlicher Basis einzuführen und abzusichern. Fonds existieren in Deutschland in der Bauindustrie, in der Forstwirtschaft und in der Textil- und Bekleidungsindustrie, also vor allem in klein- und mittelbetrieblich strukturierten Branchen und in solchen, die eine kooperative Tradition haben. Es handelt sich um freiwillige Vereinbarungen zwischen des Tarifpartnern, und schon ihre geringe Verbreitung zeigt, wie problematisch es ist, diesen Weg als Strategie für den Ausbau der Weiterbildung generalisieren zu wollen.

Die Gewerkschaften sehen dagegen dringenden Handlungsbedarf für eine aktive öffentliche Weiterbildungspolitik, wie wir sie aus anderen europäischen Ländern kennen. Ein neues Weiterbildungssystem kann nur vom Staat, den Tarifvertragsparteien und den Betrieben gemeinsam gestaltet werden. Das heißt: Wir brauchen Aktivitäten auf den verschiedenen Ebenen, die nicht im Sinne von Verschiebebahnhöfen substituierbar sind, sondern sich gegenseitig ergänzen und unterstützen, nämlich
  • eine innovative betriebliche Weiterbildungspolitik, die dem Bedeutungszuwachs und der Neupositionierung der Kompetenzentwicklung im Betrieb gerecht werden,
  • mehr Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen und
  • ein Bundesgesetz für die berufliche Weiterbildung.
In einem Bundesgesetz soll der Staat Spielregeln formulieren für den langfristig nachhaltigen Ausbau der Weiterbildung. Der chaotische, z.T. wildwüchsig expandierende Bildungsbereich braucht mehr Systematisierung und öffentliche Verantwortung auch für die Finanzierung. Es ist eine gemeinsame Aufgabe in einem demokratischen Staat, Weiterbildungsentwicklung zu fördern und die gesellschaftlichen Interessengruppen und Institutionen zu einem Diskurs über das Notwendige und Machbare zu bewegen.

Die Erfahrungen eines gesellschaftlich geregelten und gesteuerten Systems von Weiterbildung und Weiterbildungsfinanzierung wie in Frankreich können für die deutsche Diskussion um die Zukunft beruflicher Weiterbildung deutlich machen, dass umfassende gesellschaftliche Regelungen von Weiterbildung auch in marktwirtschaftlichen Gesellschaften durchaus möglich sind. Und die Tatsache, dass in diesem System abwechselnd die Sozialpartner mit Tarifverträgen und der Staat mit Gesetzen oder Gesetzesnovellen die Initiative ergriffen haben, ist aufschlussreich, wenn wie in Deutschland beide Formen der Regelung oft als Alternative gesehen werden. "Nach diesem Muster von Reformpolitik – zunächst Tarifverträge mit innovativen Regelungen in besonders aktiven Branchen, dann Konsolidierung und Verallgemeinerung dieser Regelungen durch Gesetz – entwickelte sich das Fondssystem in drei Jahrzehnten weiter: Mit Hilfe von ca. 50 einschlägigen Tarifverträgen und einer Vielzahl von gesetzlichen Regelungen ist das 1971 geschaffene Finanzierungssystem zum heute bestehenden System geworden" (Drexel 2003: 10-11).

So wenig der Staat aus seiner Verantwortung entlassen werden darf, so sehr gilt dies aber auch für die Gewerkschaften. Während in der Vergangenheit Weiterbildungsfragen in der Regel nur aufgegriffen wurden, wenn der Verlust vieler Arbeitsplätze in der Branche drohte, haben die Gewerkschaften inzwischen in ihren Schwerpunkten zur Tarifpolitik die Weiterbildungs- und Qualifizierungspolitik ausdrücklich aufgenommen. Gleichwohl liegt zwischen der Programmatik und einer umfassenden Mobilisierungsstrategie noch ein ganzes Stück Wegstrecke. Obwohl es in den letzten Jahren gelungen ist, über Haustarifverträge, Betriebsvereinbarungen und Branchentarifverträge auch neue Akzente zu setzen, muss man für die betriebliche Weiterbildung in einer nüchternen Bilanz feststellen, dass sie ein weitgehend regulierungsfreier Raum geblieben ist. Nach einer neueren Untersuchung des WSI und der Universität Duisburg vollzieht sich die Weiterbildung nur in 5% aller Unternehmen auf der Basis von Tarifverträgen. Nimmt man Betriebsvereinbarungen, einzelvertragliche Regelungen und informelle Absprachen hinzu, dann haben gerade mal 28% eine mehr oder weniger explizit verbindliche Grundlage für die betriebliche Weiterbildung geschaffen (vgl. Dobischat/Seifert 2001).

Vor diesem Hintergrund haben ver.di und IG Metall in diesem Jahr eine strategische Initiative zur Verankerung von beruflicher Weiterbildung als Kernaufgabe qualitativer Tarifpolitik gestartet (vgl. Dokumentation des Workshops "Weiterbildung – ein Schwerpunkt für die ver.di-Tarifpolitik?" 2004). Im Mittelpunkt stehen dabei die branchenpolitischen Strategien, die Schnittstellen zur Betriebspolitik und die in den Betrieben existierenden vielfältigen institutionellen Hemmnisse und Widerstände. Neben Fragen der Regulierung von Rechtsansprüchen, Zeit/Freistellung, Ermittlung des Weiterbildungsbedarfs und betriebliche Mitbestimmung, Information und Personalplanung, Konfliktlösung, Weiterbildung für besondere Zielgruppen und Qualitätsmanagement steht ganz oben auf der Prioritätenliste die Verpflichtung der Betriebe zu einem bestimmten Beitrag und die Schaffung von Weiterbildungsfonds als innovative Lösung für die Finanzierung.

7. Durch eine neoliberal agierende Wirtschaft und eine in weiten Teilen auf Deregulierung fixierte Politik sind die Gewerkschaften zunehmend in die Lage gekommen, die erworbenen Verteilungsstandards zu erhalten und zu verteidigen. Dabei drohen diese Auseinandersetzungen auf Kosten ihrer Gestaltungskompetenz zu gehen. Weiterbildung gehört zu den Themen qualitativer Politik, mit denen es möglich sein könnte, aus der Defensive herauszukommen und lohnende Zukunftsfelder zu besetzen. Die entscheidende Frage wird sein, ob es den Gewerkschaften gelingt, dafür Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben und Verwaltungen zu mobilisieren (wie damals die IG Metall beim Abschluss des Qualifizierungstarifvertrags in Baden-Württemberg) und Bündnispartner in Politik und Wirtschaft zu finden, die mit ihnen der Meinung sind, dass ein qualitativer Sprung in Sachen Weiterbildung unverzichtbar ist für die Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft.

Natürlich, Bildungsreform lebt nicht vom Geld allein. Die Finanzierung ist ein Baustein in einer gesamtgesellschaftlichen Bildungsinitiative, die ein neues Weiterbildungsklima in Deutschland dadurch herstellt, dass sie Voraussetzungen und Strukturen dafür schafft.

Literatur

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Der Beitrag ist entnommen aus

Peter Faulstich/Mechthild Bayer (Hrsg)

Lerngelder

Für öffentliche Verantwortung in der Weiterbildung
Eine Initiative von IG Metall und ver.di 200 Seiten

Es ist erschienen im VSA-Verlag und kostet 12.80 Euro.

Wir danken dem VSA-Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieses Artikels. Die Rechte an dem Text besitzt der VSA-Verlag.

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Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 25.02.2006