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Die „Bildungsrepublik Deutschland“ braucht Denkanstöße – Für einen „dem Menschen gerecht werdenden Bildungsdiskurs“

Vorbemerkung
Vor kurzem ist der zweite Bildungsbericht der Bundesregierung veröffentlicht worden; Anfang Mai erschien die „Konzeption der Bundesregierung zum Lernen im Lebenslauf“, die sich im Wesentlichen wiederum auf die „Empfehlungen des Innovationskreises Weiterbildung zur Gestaltung des Lernens im Lebenslauf“ vom März dieses Jahres stützt. In ihrer Rede zur Festveranstaltung „60 Jahre Soziale Marktwirtschaft“ am 12. Juni hat Bundeskanzlerin Merkel die Leitidee „Bildung für alle“ proklamiert und bei dieser Gelegenheit wie nebenbei die „Bildungsrepublik Deutschland“ ausgerufen.

Aus Ludwig Erhards „großer Verheißung in schwierigsten Zeiten: Wohlstand für alle“ hat die Bundeskanzlerin mit einem kühnen Sprung die Formel „Bildung für alle“ gewonnen. Mit ihr bindet sie die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft an ein demokratisches, gerechtes und effizientes Bildungssystem – das hat sie freilich so direkt und deutlich nicht gesagt und vielleicht auch nicht unbedingt sagen wollen. Dafür hat sie jedoch in ihre Lobrede auf die Soziale Marktwirtschaft einen Denkanstoß eingebaut, der in keiner Reaktion der Medien vorkam, weil aus ihm so leicht auch keine Schlagzeile zu machen ist und der auch in den Lehrbüchern der Betriebswirtschaft nicht vorkommen wird: „dass die Soziale Marktwirtschaft nicht in der Lage ist, ihre eigenen Voraussetzungen zu schaffen“. Diese Voraussetzungen seien – so die Bundeskanzlerin – „Werte, gelebte Werte“ und durch sie soll gelingen, worauf es schließlich ankommt, „dass die Marktwirtschaft uns Menschen auch wirklich gerecht wird“.

Für die Evangelische Erwachsenenbildung ist der Grundsatz „Am Menschen orientiert“ und eine „dem Menschen gerecht werdende Bildung“ gleichermaßen und untrennbar ein pädagogisches und ein bildungspolitisches Prinzip. Daher nehmen wir den Denkimpuls der Bundeskanzlerin gerne auf – indem wir einige Denkanstöße geben, weil wir den Eindruck und die Sorge haben, dass in der Konzeption und Praxis der Bildungspolitik die „Orientierung am Menschen“ dem Geist einer konsequenten „Indienstnahme des Menschen durch Bildung“ zum Opfer fällt.


1. Teilhaberechte statt Anschlusspflichten

Es gehört zum Wesen der demokratischen Gesellschaft, dass in ihr eine Bildungsstrategie
beim einzelnen Bürger, bei der einzelnen Bürgerin und den ihnen je eigenen und gegebenen
Möglichkeiten zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit als mündiges Subjekt ansetzt,
und nicht bei ihren Funktionalisierungen für institutionelle oder ökonomische Prozesse.
Eine Strategie „Lernen im Lebenslauf“ hat an erster Stelle Teilhaberechte im Auge und
nicht Anschlusspflichten. Wo vom „herausragenden Stellenwert des Humanvermögens“
gesprochen wird, ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass Bildung im Kern
nicht die Menschen, sondern die von ihnen erwarteten Anpassungsleistungen an eine
subjektlose Entwicklung fördern soll.


2. Leitziel einer demokratischen Gesellschaft: Das gute Leben für alle

Bildungs- und Entwicklungsziel in der demokratischen Gesellschaft ist das „gute Leben
für alle“. Eine prosperierende Ökonomie kann dazu ebenso eine Voraussetzung darstellen
wie eine „Ökonomie des Genug“. Eine vorrangige Ausrichtung der Bildungsziele an
ökonomischen Wachstumspostulaten und der Positionierung im globalen Konkurrenzkampf
um Märkte verkehrt das Verhältnis von Zielen und Bedingungen zur Zielerfüllung
in ihr Gegenteil.


3. Bildungshindernisse in den Blick nehmen

Wer Bildungsbeteiligung erhöhen will, muss die bestehenden Bildungshindernisse in den
Blick nehmen. Angebote zur Förderung von Beschäftigungsfähigkeit machen nur Sinn,
wenn auch reale Beschäftigungsangebote auf dem Markt sind. Wo Bildungskarrieren auf
Perspektiven der Sinnlosigkeit aufgebaut werden, wertlose Schulabschlüsse produziert
werden, Lernenden die eigenen Unfähigkeiten im Bildungsgeschehen demonstriert werden
und nicht von klein auf ihr Bildungshunger genährt wird und ihre eigenen Ressourcen
zu Tage gebracht und gefördert werden, da greift eine Strategie zur Steigerung der
Bildungsbeteiligung ins Leere.
Entsprechend muss eine Strategie „Lernen im Lebenslauf“ auch die gesellschaftlich produzierte
Bildungsverweigerung mit ihrer Folge von Exklusion kritisch in den Blick nehmen
und fragen, wie die mit „Bildung“ verbundenen negativen Erfahrungen und Frustrationen
in eine neue Bereitschaft gewendet werden können, es im Erwachsenenalter „noch einmal
mit Bildung zu versuchen“. Es fehlt sowohl den Empfehlungen des Innovationskreises
als auch der „Konzeption der Bundesregierung zum Lernen im Lebenslauf“ an „Erdung“
in der Realität, an unserer gesellschaftlichen Basis.


4. Öffentlicher Bildungsauftrag braucht institutionelle Förderung

Wer unter den Bedingungen auch problematischer Bildungskarrieren Bildungsbeteiligung
steigern will, wird nur begrenzt Erfolge erzielen können, wenn er vorrangig bei einem auf
die Einzelpersonen ausgerichteten finanziellen Anreizsystem (Bildungsguthaben und Bildungsberatung als Investmentberatung) ansetzt. Notwendig ist die institutionelle Förderung einer am öffentlichen Bildungsauftrag ausgerichteten Struktur von Weiterbildungseinrichtungen,
die zu langfristigem zielgruppenspezifischen Programmplanungshandeln
in der Lage sind.


5. Selbstverantwortung und Solidarität

Ein bloßer Ansatz bei Wissen, bei Anwendung erworbenen Wissens und erworbener Kompetenzen
greift zu kurz. Gefragt sind Selbstreflexion, Selbstrelativierung, Verknüpfungsfähigkeiten
von „ich und wir“, Selbstverantwortung und Solidarität, Orientierung am Leben
für alle, Erinnerungs- und Utopiefähigkeit. Ebenso wichtig ist der verantwortliche Umgang
mit dem alle Wissensakkumulationen begleitenden und sich gleichermaßen steigernden
Nicht-Wissen: Wie können wir unter den Bedingungen des Nicht-Wissens verantwortlich
handeln?


Frankfurt, den 1. Juli 2008

Hans-Gerhard Klatt/Christina Wohlfahrt
(Vorsitzende)

Andreas Seiverth
(Bundesgeschäftsführer)


Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 08.10.2008