Berufliche Weiterbildung

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Studium oder Lehre?

"Wir bekommen immer mehr sogenannte Akademiker"

Interview mit dem Arbeitsmarktexperten Prof. Dr. Stefan Sell

Herr Sell, wir haben in Deutschland immer mehr Abiturienten und eine steigende Zahl an Akademikern. Ist das eine gute Entwicklung?

Stefan Sell: Auf den ersten Blick könnte man sagen: "Wir haben die Forderungen der OECD nach einer höheren Akademikerquote erreicht." Was die OECD in meinen Augen aber schon immer übersehen hat: Deutschland hat ein anderes Ausbildungssystem als andere Länder. Wir haben die duale Berufsausbildung, wir haben den Meister und die Aufstiegsweiterbildung. All das haben andere Länder nicht, dort werden junge Menschen gleich an den Hochschulen ausgebildet. Insofern war der Vergleich mit anderen OECD-Ländern immer der Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen.


Hochschulen sind die am schlechtesten ausgestatteten Bildungseinrichtungen

Der Trend zeigt aber eindeutig in Richtung Hochschule. Was beutet das für die Qualität der akademischen Bildung?

Stefan Sell: Wir erleben gerade eine wahre "Akademisierungswelle". Im letzten Jahr haben ebenso viele junge Menschen ein Studium angefangen wie eine Berufsausbildung. Das hat es früher nie gegeben. Das heißt, wir bekommen immer mehr sogenannte Akademiker. Ich sage deswegen 'sogenannte Akademiker', weil die Hochschulen geflutet werden mit Studierenden, objektiv aber die am schlechtesten ausgestatteten Bildungseinrichtungen sind. Der Schlüssel "Professoren – Studierende" ist um ein vielfaches schlechter als beispielsweise die Relation "Lehrer – Schüler", geschweige denn die duale Berufsausbildung, wo es oft nur einen gibt, der sich um den Azubi kümmert.

Wenn ich Sie richtig verstehe, sollte hier umgesteuert werden. Allerdings findet in den Gymnasien auch kaum Berufsorientierung in Richtung der dualen Ausbildungsberufe statt. Hier gilt der Akademiker als erstrebenswertes Ziel, weil er in seinem Berufsleben in der Regel mehr verdient und auch höher angesehen ist.

Stefan Sell: Damit sprechen Sie ein großes Problem an. In den 70er und 80er Jahren haben maximal 25 Prozent eines Jahrgangs Abitur gemacht. Damals diente das Gymnasium im dreigliedrigen Schulsystem als Vorbereitung auf ein Studium. Vor diesem Hintergrund werden die Lehrer bis heute ausgebildet, gerade die Gymnasiallehrer. Nur haben wir heute die Situation – überspitzt formuliert -, dass das Gymnasium die neue Hauptschule ist, nicht vom Niveau her, aber gemessen an der früheren Breite. Über 50 Prozent der Schüler erreichen heute irgendeinen Hochschulzugang. Unter diesen Schülern sind viele, und ich meine dies positiv, für die eine Berufsausbildung sinnvoller wäre, von der Art und Weise der Betreuung und des Lernens. Trotzdem bleibt die Institution Gymnasium immer noch bei dem klassischen Blick Richtung Hochschule – und warum sollten sich die Gymnasiasten dann für eine duale Ausbildung interessieren? Das muss dann schon intrinsisches Interesse sein.


Breite wissenschaftliche Ausbildung statt Detailqualifikation

Nach der Schule treffen diese Schüler dann auf eine stark differenzierte Hochschullandschaft. Hinsichtlich des Bologna-Prozesses sagten Sie einmal, dass wir in zwanzig Jahren die Hände über dem Kopf zusammenschlagen werden. Warum?

Stefan Sell: Wir werden schon in den nächsten Jahren feststellen, dass die Passungsfähigkeit zwischen den Studieninhalten und der Welt schlechter geworden ist. Wobei das Ziel genau ein anderes war. Heute schneidet man die Studieninhalte immer detaillierter zu auf vorhandene Jobs oder Tätigkeiten, und das ist der falsche Weg. Denn es kann jederzeit passieren, dass es den Job nicht mehr gibt oder sich das Tätigkeitsprofil ändert. Deshalb wäre es sinnvoller, ein breites Studium zu machen, in dem man Methodenwissen und Reflexionsfähigkeit vermittelt bekommt, und lernt, sich schnell einzuarbeiten. Denn: Was wissen wir denn, welche Anforderungen in zehn Jahren an den Job gestellt werden?

Also lieber eine allgemeine breite, wissenschaftliche Ausbildung an den Hochschulen?

Stefan Sell: Ja, und die Frage der Detailqualifikation bitte hineinverlegen in die Zukunft, nämlich in den Weiterbildungsbereich. Nur wird diese Diskussion derzeit nicht geführt, weil wir das System genau andersherum umgesetzt haben. So kommen in den Master-Studiengängen Bachelor-Absolventen zusammen, die hochspezialisierte Studiengänge abgeschlossen haben. Die Folge ist: Auf einem heterogenen Feld wird anfangen, irgendwie zu lavieren. Deswegen glaube ich, dass wir hierbei schlichtweg in die falsche Richtung gelaufen sind.

Schauen wir bitte noch auf eine Zielgruppe, die nicht für die Hochschulen, sehr wohl jedoch für die duale Ausbildung interessant ist: die 20- bis 30-Jährigen ohne Berufsabschluss. Was wird für diese Menschen, im "hohen Ausbildungsalter", getan?

Stefan Sell: Für diese wichtige Gruppe wird schon etwas getan. Sie müssen sich vorstellen, dass die Menschen, die heute zwischen 25 und 34 Jahren alt sind, häufig die Verlierer der Zeit sind, in der es noch zu wenige Ausbildungsplätze und zu viele Bewerber gab. Die sind damals nicht zum Zug gekommen, haben irgendwann aufgegeben und haben als Um- oder Angelernte in der Industrie gearbeitet oder in der Leiharbeit angefangen. Diesen Menschen noch einmal eine Chance zu geben, dafür gibt es jetzt erste Ansätze. Beispielsweise hat die Bundesagentur für Arbeit ein Programm, das heißt Spätstarter. Allein die Wortwahl ist nicht besonders gelungen. Oder wollen Sie ein Spätstarter sein? Dennoch: Wenn wir von den Lebensälteren die Hälfte oder 30 Prozent zu Facharbeitern ausbilden könnten, dann wäre der Volkswirtschaft ein gewaltiger Nutzen entstanden.

Wie kann dieses Ziel erreicht werden?

Stefan Sell: Dafür sollten wir Geld in die Hand nehmen. Es kann doch nicht sein, dass man einem Arbeitslosen oder Hartz-4-Empfänger sagt: "Mach eine Ausbildung, dann bekommst du Hartz-4 weiter". Stattdessen sollten wir die Lebensälteren, die vielleicht schon einmal Geld verdient haben, die eventuell eine Familie haben, fördern, wenn sie noch einmal eine dreijährige Ausbildung auf sich nehmen. Denn sie werden später durch ihre Beiträge und Steuern soviel Geld in die Kassen spülen, dass sich das zigmal lohnt. Diesen Mut erkenne ich derzeit noch nicht bei der Politik.

Der Blog von Prof. Dr. Stefan Sell


Quelle: bildungsklick.de vom 20. Mai 2014


Schlagworte zu diesem Beitrag: Ausbildung, Öffentliche Beschäftigungspolitik
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 30.05.2014