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Neue Veröffentlichung des wissenschaftlichen Beraterkreis von ver.di und der IG Metall

Die bildungspolitischen Vereinbarungen der Bundesregierung auf dem Prüfstand

Schlussbetrachtung:
viele Details, keine Struktur, reformerisches Stückwerk



In der Summe werfen die bildungspolitischen Vereinbarungen der amtierenden Koalition aus CDU, CSU und SPD mehr Fragen auf als sie beantworten. Wie ausgeführt, gibt es einerseits konkrete, eher kleinteilige Vorschläge, die in Teilen zu begrüßen sind, andererseits fehlt die Struktur, das Konzept für die Umsetzung und eine verbindende Reformperspektive. Die Vereinbarungen bauen im Regelfall auf dem Regierungshandeln der vergangenen Legislaturperiode auf und sind zu einem Teil schlichtweg von der damaligen, von denselben Parteien gebildeten Bundesregierung nicht umgesetzt worden. Deshalb ist sehr aufmerksam zu verfolgen, ob es dieses Mal mit der Umsetzung klappt.

Insgesamt fällt das Resümee nach einem Jahr Regierungshandeln kritisch aus. Eine Vielzahl von Gremien und Kommissionen arbeitet nebeneinander her, bisher ist wenig in Gesetzesform gekleidet worden. Bis heute ist nicht erkennbar, wann und in welcher Form der angekündigte Nationale Bildungsrat eingerichtet wird. Auf die Schwierigkeiten beim Digitalpakt Schule wurde hingewiesen, ebenso auf die mangelhaften, einseitigen und überwiegend im Arbeitgeberinteresse liegenden Vorschläge zur Reform des Berufsbildungsgesetzes.

Es gibt Ankündigungen und Absichtserklärungen, die erst bewertet werden können, wenn erste Konkretisierungsschritte unternommen worden sind. Diese Offenheit bietet indes auch die Möglichkeit für die Gewerkschaften, durch Interventionen den Lauf der Dinge in die gewünschte Richtung zu lenken. Im Besonderen gilt dies für die ins Auge gefassten Gremien wie den Nationalen Bildungsrat. Hier werden schon mit der Besetzung Weichen gestellt, die das Spektrum möglicher Empfehlungen einengen oder öffnen.

Schließlich gibt es Forderungen im Koalitionsvertrag und vereinseitigte Argumentationen wie z.B. bei der Digitalisierung, die schon zum jetzigen Zeitpunkt auf unsere Ablehnung, zumindest aber auf unsere Skepsis treffen. All das haben wir ausgeführt, begründet und mit Alternativvorstellungen versehen.

Dabei wird deutlich, dass wir anders als offenbar die Koalitionäre einem Gesamtkonzept, einer Leitlinie folgen.

Dieses haben wir seit 2004 in unseren Gutachten, die unter dem Titel „Berufsbildungsperspektiven“ erschienen sind, immer wieder ausgeführt, pointiert und aktualisiert. Es basiert im Wesentlichen auf fünf Grundprinzipien:
  1. auf einem emanzipatorischen Bildungsbegriff, der den Traditionslinien der Aufklärung folgt und darauf abstellt, dass die Menschen durch Bildung autonomer, selbstständiger und solidarischer werden. Bildung soll den Handlungsspielraum persönlich, beruflich und sozial erweitern, soll Toleranz, Offenheit und Weltverstehen fördern, soll Hintergründe ausleuchten und autoritative Anmaßungen in Frage stellen, soll die Demokratie und Humanität stärken. Bildung vermittelt nicht nur Wissen und Fertigkeiten, sondern auch Werte und Haltungen. Das unterscheidet sie maßgeblich von Lernen und Kompetenzentwicklung, die unabhängig vom Lerngegenstand betrachtet werden können und von daher auch immer in Gefahr stehen, fremden Interessen zu dienen.

  2. auf dem Prinzip der erweiterten Beruflichkeit, welches sich deutlich von der neoliberal konnotierten „Beschäftigungsfähigkeit“ abhebt. Es stellt darauf ab, dass Arbeitsbereiche und Anforderungsstrukturen in inhaltlich und fachlich bestimmten, voneinander abgrenzbaren Berufen institutionalisiert und formalisiert sind. Zudem ist kennzeichnend, dass die Berufsausbildung über föderalistische und korporatistische Steuerungselemente geprägt ist. Es geht darum, die Fahrt in ein dereguliertes, auf die Selbstvermarktung der Arbeitenden setzendes Job-System zu stoppen, welches sich nur an den aktuellen Bedürfnissen der Unternehmen ausrichtet.

  3. auf dem Prinzip der guten Arbeit, wie sie im Kontext gewerkschaftlicher Untersuchungen definiert wird. Es handelt sich dabei um Arbeit, die angemessen und leistungsgerecht bezahlt wird (Gleicher Lohn für gleiche Arbeit), um sichere Arbeit, bei der sich nicht jeden Tag die Existenzfrage stellt. Gute Arbeit ist humane Arbeit in einem guten Betriebsklima, in dem Wertschätzung, Anerkennung und Respekt selbstverständlich sind. Gute Arbeit ist zudem mitbestimmt und gestaltungsoffen. Sie ist lernförderlich. Es geht um nicht weniger als weltweit der Flexibilisierung der Arbeit, gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen und der Ausbeutung Einhalt zu gebieten.

  4. auf dem Prinzip der öffentlichen Verantwortung für Bildung, das sicherstellen soll, dass wichtige Bereiche der Daseinsvorsorge nicht dem Belieben der Marktkräfte unterworfen werden. Öffentliche Verantwortung stellt durch Gesetze, staatliche Aufsicht und Finanzierung sicher, dass Bildungsangebote flächendeckend und erschwinglich angeboten werden. Sie garantiert Qualität, Professionalität und sozialen Ausgleich und steuert im Bedarfsfall im Sinne der von ihr vertretenen Prinzipien.
    Sie bedeutet nicht, dass alle Bildungsangebote unter direkter staatlicher Regie stattfinden müssen, wohl aber dass Marktversagen nicht hingenommen und Bildung nicht weiter ökonomisiert wird. Bildung ist keine Ware.

  5. auf einer integrativen Sicht auf das Bildungswesen, welche sektoralen Abgrenzungen und Egoismen die Stirn bietet. Betont werden vielmehr die Schnittstellen, die Notwendigkeit zur Sektor übergreifen-den Zusammenarbeit und die Notwendigkeit, wechselseitig voneinander zu lernen und zu kooperieren. Diese Sichtweise schließt auch die Überlegung ein, dass die Arbeitsbedingungen im gesamten Bildungswesen angemessen, gut und gleich gestaltet werden. Es ist nicht hinnehmbar, dass z.B. Lehrkräfte im Zweiten Bildungs-weg deutlich geringer bezahlt werden als die vergleichbaren Lehrkräfte im Schulsystem.

Eine Bezugnahme auf diese Positionen ist aus Sicht des Wissenschaftlichen Beraterkreises dringend erforderlich, denn der Problemdruck ist inzwischen nicht nur in der Bildungspolitik groß. Es ist die Zeit für grundlegende Reformen, für politischen Mut und Gestaltungswillen.

Die Verabredungen im Koalitionsvertrag stehen in der Kontinuität der vergangenen Legislaturperioden. Viele davon waren nicht unumstritten wie der sog. Bildungsgipfel der Bundesregierung vom Herbst 2008, der Vieles ankündigte und wenig umsetzte. Klaus Klemm attestierte der Bundesregierung zehn Jahre später eine „durchwachsene“ Bilanz. „Es wird ein schwerwiegendes und fortbestehendes Problem des deutschen Bildungs- und Ausbildungssystem offenkundig. Nach wie vor trägt es dazu bei, ungleiche Lebenschancen zu verfestigen und die Polarisierung in der Gesellschaft zu befördern“.

Auch wenn die Positionen in der Wissenschaft häufig konträr und die Positionen in der Gesellschaft in vielen Fragen weit auseinander gehen, wird die Notwendigkeit einer umfassen-den Bildungsreform heute kaum mehr bestritten. Zu groß sind die Widersprüche und Probleme im Bildungssektor, die auch durch die Neue Steuerung nicht behoben, sondern eher verschärft wurden. Noch immer ist Bildung in der Bundesrepublik im Vergleich zu anderen OECD-Staaten signifikant unterfinanziert. Das deutsche Bildungssystem ist − auch darauf wies die OECD wiederholt hin − hochgradig selektiv. Nach wie vor sind Bildungs- und damit Erwerbschancen in hohem Maße von der sozialen Herkunft abhängig. Die soziale und berufliche Durchlässigkeit wird zwar von Vielen propagiert, ist formal auch durch eine Reihe von Maßnahmen verbessert worden, aber längst nicht Realität. Allgemeine und berufliche Bildung werden in der Realität noch immer nicht als gleichwertig angesehen.


Quelle:
Auf dem Prüfstand: die bildungspolitischen Vereinbarungen der Bundesregierung
Neue Veröffentlichung des wissenschaftlichen Beraterkreis von ver.di und der IG Metall
Februar 2019




Verweise zu diesem Artikel:
Schlagworte zu diesem Beitrag: Ausbildung, Betriebliche Weiterbildung, Meister-BAföG, Erwerbslose
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 07.03.2019